Erfahrungsberichte Lateinamerika
28.12.2015

Volontariat im Projekt ALALAY in Bolivien

“Stehaufma(n)derl”

Katja Leidl über ihre Erfahrungen als Freiwillige in einem bolivianischen Kinderdorf

Nach meiner Matura habe ich neun Monate in Bolivien verbracht um dort als Volontärin in einem Kinderdorf des Projektes ALALAY mitzuarbeiten. Das Dorf befindet sich ca. 50 km entfernt von Santa Cruz, der größten, sowie auch reichsten Stadt Boliviens.

Mehr als 70 ehemalige Straßenkinder zwischen 3 und 16 Jahren wohnen im Dorf- aufgeteilt in sechs Gruppen. Jede Gruppe wird von zwei Erzieherinnen geleitet, die sich aber alle sieben Tage abwechseln. Jeden Freitag passiert also ein Turnuswechsel und die Kinder verbringen die nächste Woche mit einer anderen Person. Jedoch ist es manchmal nicht so sicher, ob die Erzieherin der Vorwoche zurückkommen wird, da die Organisation des Projektes ziemlich chaotisch ist und die Erzieherinnen aus diversen Gründen oft dazu veranlasst werden, die Gruppe zu wechseln.

Die Kinder einer Gruppe müssen also nicht nur mit bis zu 14 anderen um die Aufmerksamkeit ihrer Erzieherin kämpfen sondern erleben außerdem einen sehr häufigen Wechsel derer. Jede Erzieherin hat ihre eigenen Wertvorstellungen und erwartet von den Kindern auch, sich an ihre Regeln zu halten.

Trotz des dauerhaften Fehlens an Regelmäßigkeit, Stabilität und Sicherheit freuen sich die Kinder über jede Erzieherin, über jeden Volontär, der zu ihnen kommt, lassen Nähe zu und zeigen Dankbarkeit.

Ich möchte dazu ein Beispiel erzählen.

An meinem allerersten Tag im Kinderdorf wurde ich gebeten, eine Erzieherin zu vertreten und an ihrer Stelle die Gruppe der 3- bis 6-jährigen Buben zu leiten. Ich sollte mich also vom späten Nachmittag bis zum Vormittag des nächsten Tages allein um sieben kleine Buben kümmern. Weder kannte ich die Regeln der Gruppe, noch die Namen der Kinder, von der Sprache ganz zu schweigen- ich konnte ja kaum Spanisch.

Natürlich verlief der Abend auch dementsprechend katastrophal. Verzweifelt versuchte ich, mit dem Chaos fertig zu werden, während die Buben unterschiedlich auf die Situation reagierten: der eine schlug den anderen, ein dritter rannte davon, ein vierter schloss die Badezimmertür, die sich daraufhin nicht mehr öffnen ließ, ein fünfter hörte nicht auf lauthals zu weinen,…

Es bedurfte an hohem stimmlichem und körperlichem Einsatz meinerseits bis sich schließlich alle Buben mit Abendessen im Bauch in ihren Betten befanden.

Für mich verlief der Abend zwar alles andere als einfach- aber was das für die Kinder für eine Zumutung darstellte, ist für uns glaube ich gar nicht vorstellbar. Plötzlich wurden sie von der gewohnten Erzieherin verlassen und stattdessen kam eine völlig unbekannte Person, die nicht einmal ihre Sprache sprach. Ich bin mir sicher, dass die Buben unter der Situation sehr gelitten haben.

Und trotzdem passierte am nächsten Morgen etwas, womit ich absolut nicht gerechnet hatte. Ein Bub stand vor meiner Zimmertür und als ich sie öffnete- umarmte er mich! Die chaotischen Ereignisse des Vorabends schienen wie vergessen.

Weiteres möchte ich noch von einem anderen Erlebnis berichten, das beweist, wie unglaublich zäh die Kinder des Kinderdorfes sind und dass es nahezu unmöglich ist, ihnen das Glücklichsein zu nehmen…

Die angewendeten Erziehungsmethoden waren für mich oft absolut nicht nachvollziehbar und passierten meist ohne pädagogische Hintergedanken.

Und somit ergab es sich einmal, dass die Gruppe der 8- bis 11-jährigen Buben irgendeine unbedeutende Kleinigkeit angestellt hatte und die Erzieherin sie daraufhin bestrafte, indem sie alle im Haus einsperrte und sie zum Generalputz zwang. Ohne triftigen Grund mussten die Jungen also, anstatt draußen mit den anderen Kindern zu toben und zu spielen, jeden kleinsten Winkel ihres Hauses putzen.

Ich war empört über diese Ungerechtigkeit und die Kinder taten mir leid. Doch als ich durchs Fenster ins Haus schaute, erblickte ich alles andere als beleidigte, missmutige Buben – im Gegenteil! Sie winkten mir fröhlich zu während sie eifrig am Putzen waren, scherzten und hatten Spaß.

Wenn ich das Wort „Stehaufma(n)derl“ höre, bringe ich es in Verbindung mit diesen Kindern. So schwer sie es auch haben, so sehr sie auch niedergedrückt werden- viele von ihnen stehen immer wieder auf und lassen sich durch nichts und niemanden ihrer Lebensfreude berauben.